Jede Sekunde zählt - Ein Interview mit der deutschen Hilfsorganisation @fire

Katastrophenhilfe - Beirut - AtFire - Hilti Foundation - Katastrophenhilfsprogramme

"Wir funktionieren und arbeiten zusammen wie eine Familie".

Anfang August dieses Jahres erschütterte eine gewaltige Explosion die libanesische Hauptstadt Beirut und die Bewohner dieser Stadt. Die Folgen waren verheerend: Mindestens 220 Menschen wurden getötet und weitere 6000 zum Teil schwer verletzt. Etwa 8000 Gebäude wurden zerstört oder beschädigt, und zwischen 200 000 und 300 000 Menschen wurden durch das Ereignis obdachlos. Bereits einen Tag nach der Katastrophe war die deutsche Hilfsorganisation @fire, unterstützt von Hilti Foundation, mit einem Rettungsteam vor Ort. 

Johannes Gust (JG) hilft, die Aktivitäten des Teams von Deutschland aus zu koordinieren. Hilti Mitarbeiter Markus Stengele (MS) war als Mitglied des Rettungsteams in Beirut. Im folgenden Interview schildern beide Männer den Ablauf und die besonderen Herausforderungen dieser Hilfsaktion aus ihrer ganz persönlichen Sicht.

 

Sie stehen beide voll im Berufsleben und Ihre Arbeit für @fire ist zu 100 Prozent ehrenamtlich. Nach welchen Kriterien entscheiden Sie persönlich, ob Sie sich an einer solchen Hilfsaktion beteiligen?

JG: Als Selbständiger wie ich muss man sich schnell entscheiden, ob man spontan aus dem Tagesgeschäft aussteigen kann. Von da an ist die Aufmerksamkeit zu 100 Prozent auf die Arbeit gerichtet und man ist von morgens bis abends mit ihr beschäftigt. Das eigene Unternehmen wird dann völlig zweitrangig und liegt auf Eis.

Katastrophenhilfe - Beirut - @Fire - Hilti Foundation - Katastrophenhilfsprogramme

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Von unseren rund 200 @fire-Mitgliedern haben mindestens zwei Drittel keine Zeit oder Möglichkeit, an einem Notfalleinsatz teilzunehmen. Jeder muss sehen, ob es überhaupt möglich ist, von seinem Arbeitgeber freigestellt zu werden. Einige erhalten die Erlaubnis, andere müssen ihren Urlaub nehmen. Aber sobald die Entscheidung gefallen ist, kommt der typische @fire-Geist zum Vorschein: Wenn die Kollegen im Einsatz sind, tut man fast alles für sie. Man mobilisiert enorme Kräfte, um Dinge möglich zu machen. Das gilt besonders für die @fire-Helfer, die nicht im Rampenlicht stehen und nur im Hintergrund arbeiten.

MS: Ich habe drei Kinder, also ist die erste Person, die ich kontaktieren muss, zu Hause: meine Partnerin Sonja. Ihr OK hat Vorrang. Zudem habe ich das Glück, dass mein Arbeitgeber, die Firma Hilti, sehr kulant ist und solche Einsätze ermöglicht, aber nur, wenn nichts Dringendes ansteht oder wenn man sich sofort um etwas kümmern muss. Das war hier nicht der Fall.

 

Wann wurde klar, dass ein @fire-Team tatsächlich nach Beirut geschickt werden würde?

JG: Die International Search and Rescue Advisory Group, eine UN-Organisation, betreibt ein eigenes Intranet, das als Koordinationszentrum dient und in dem aktuelle Informationen der UN und anderer internationaler Organisationen verlinkt sind. Von dort haben wir erfahren, dass der Libanon die UN um Hilfe gebeten hat. Wir informierten daher die libanesische Botschaft in Berlin über unsere Bereitschaft, mit einem eigenen Team vor Ort zu helfen. Der Botschafter selbst rief uns daraufhin an und bat uns im Namen der libanesischen Regierung um Hilfe. 

 

Wie lange hat es gedauert, bis @fire einsatzbereit war?

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JG: Bei dieser Art von Katastrophen beginnen unsere internen Vorbereitungen schon, bevor wir das endgültige "Go" für den Einsatz erhalten. Wenn man wartet, bis man ein offizielles Dokument erhält, ist es meist schon zu spät.

Zunächst einmal haben wir eine Task Force eingerichtet, die im Wesentlichen von Deutschland aus operierte und in der ich Mitglied war. Es gibt keine zentrale @fire-Einsatzzentrale, sondern den 16-köpfigen Koordinierungsstab, der über ganz Deutschland und teilweise auch in den Nachbarländern verteilt war. Wir kommunizierten und koordinierten fast alles über das Internet und das Telefon. Die Einsatzmittel haben wir in unserem Lager in der Nähe von Köln kontrolliert und zum Teil zum Flughafen nach Frankfurt gebracht.

Gleichzeitig wurde eine Alarm-SMS an unsere Freiwilligen verschickt, in der sie darüber informiert wurden, dass ein Einsatz in Beirut bevorsteht, und in der sie gebeten wurden, uns mitzuteilen, wer einsatzbereit ist. In unserem Pool von mehr als 200 Freiwilligen werden erfahrungsgemäß zwischen einem Drittel und einem Viertel der Freiwilligen für einen solchen Einsatz in Betracht gezogen. Nach der Rückmeldung prüfen wir dann intern, welche Freiwilligen in die engere Wahl kommen, weil sie alle notwendigen Voraussetzungen für den Einsatz mitbringen: von abgeschlossenen Schulungen bis hin zu den für die Region erforderlichen Impfungen. Am Ende blieben etwa 25 bis 30 Personen übrig, von denen schließlich 13 zum Einsatz kamen. Darunter befanden sich unter anderem ein deutscher Bundeswehrarzt, ein Zivilingenieur sowie zwei Suchhunde und ihre Führer.

Eine der größten Herausforderungen im Vorfeld eines Einsatzes ist es, kurzfristig Flüge für das Team und die Ausrüstung zu finden. Manchmal verhandelt man stundenlang, um sicherzustellen, dass eine Fluggesellschaft einen mitnimmt und nicht für jedes Kilogramm Übergewicht Gebühren verlangt. Bei 2 Tonnen Ausrüstung ist das ein nicht unerheblicher finanzieller Faktor. Und das Ganze muss natürlich auch für den Rückflug organisiert werden. Wir versuchen fast immer, bei unseren Einsätzen Linienflüge zu fliegen, denn auch im Katastrophenfall sind Linienflüge mit das Letzte, was gestrichen wird. Größere Hilfsorganisationen mit eigenen Flugzeugen sind meist nicht so schnell vor Ort.

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MS: Nachdem ich als Teammitglied ausgewählt worden war, begann mein Einsatz am nächsten Morgen um 3:00 Uhr am Lindauer Bahnhof, wo ich den Zug zum Frankfurter Flughafen nahm. Die 18-kg-Grundausrüstung für solche Einsätze habe ich immer zu Hause dabei. Ich gehörte zur zweiten Gruppe, die nach Beirut geflogen wurde und unser Flugzeug enthielt die entsprechende Ausrüstung und das Werkzeug für den Einsatz.  

Wie kann man sich den Tagesablauf in einer solchen Ausnahmesituation vorstellen? Sowohl als Teil des Koordinationsstabes in Deutschland als auch als Mitglied des Einsatzteams in Beirut?

JG: Unsere Mitarbeiter arbeiteten rund um die Uhr im Schichtbetrieb. In erster Linie, um unser Team vor Ort mit allen wichtigen Informationen zu versorgen und um bei Fragen oder Problemen schnell helfen zu können. Darüber hinaus kümmerten wir uns natürlich auch um Bereiche wie Logistik, Finanzen und Medien. Und wir kümmerten uns um den gesamten Papierkram, um unsere Leute vor Ort nicht mit zusätzlicher Arbeit zu belasten.

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MS: Als wir ankamen, war das gesamte Einsatzgebiet bereits in einzelne Sektoren eingeteilt und wir wurden von der örtlichen Koordinierungsstelle - in Beirut war das Militär dafür zuständig - einem dieser Sektoren zugewiesen. Nach einer ersten Bestandsaufnahme gaben wir dann Rückmeldung, welche Gebiete besonders stark beschädigt waren. Unsere Informationen wurden dann zusammen mit denen anderer Hilfsorganisationen - einschließlich sehr genauer, hochauflösender Satellitenbilder - in ein Intranet eingespeist, auf das alle Helfer vor Ort Zugriff hatten. Auf diese Weise konnte man sich schnell ein aktuelles Bild von der Lage machen.

Meine erste Aufgabe bestand darin, Bewegungsmelder und Messsensoren zu platzieren und auszurichten, die die Einsatzkräfte mit lauten Signaltönen warnen würden, wenn Gebäude einzustürzen drohten. Dann begleitete ich Dennis und seinen Hund Sheeva mit einer Suchkamera, einem Metalldetektor sowie Schneid- und Bohrgeräten. Sobald der Suchhund anzeigte, dass sich noch lebende Menschen unter den Trümmern befanden, wäre es meine Aufgabe gewesen, sie mit der Kamera durch kleine Öffnungen zu orten, sie mit Wasser und Nahrung zu versorgen und sie zu retten, wenn wir konnten.

Unser Trupp hat jedoch keine Menschen gefunden, was damit zusammenhing, dass die Explosion im Hafengebiet nach Geschäftsschluss stattfand. Wäre sie früher, gegen 14 Uhr, statt nach 18 Uhr, und in unmittelbarer Nähe von Wohngebieten geschehen, hätte es zweifellos viel mehr Tote gegeben. Nach zwei Tagen befahl das Militär schließlich, die Suche nach Überlebenden einzustellen. Am 3. und 4. Tag war ich mit einem Statiker unterwegs, um zu prüfen und zu beurteilen, was stark einsturzgefährdet oder noch zugänglich war.

Die Hilti Foundation unterstützt @fire mit technischen Hilfsmitteln und Ausrüstungen. Wie wurden sie in Beirut eingesetzt?

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MS: Wir arbeiten nicht nur selbst mit Hilti-Geräten, sondern konnten auch Geräte an die Feuerwehr in Beirut übergeben, mit der wir in diesen Tagen sehr eng und sehr gut zusammengearbeitet haben. Am letzten Tag haben zwei Hilti Mitarbeiter und ich die örtlichen Kommandanten im Umgang mit Bohrmaschinen, Winkelschleifern oder Säbelsägen geschult, damit sie ihre Aufgaben in Zukunft besser und effizienter erledigen können. Die Werkzeuge, die ihnen zur Verfügung standen, waren oft nur Handsägen oder alte Geräte. Es war schön zu sehen, wie unsere moderne, hochwertige Ausrüstung die Motivation der einheimischen Teammitglieder spürbar steigerte. Ich bekomme immer noch Fotos aus Beirut, die zeigen, wo und wie sie die Hilti Geräte einsetzen.

 

Der Betrieb wurde zusätzlich durch Covid-19 erschwert. Welche Präventivmaßnahmen wurden in diesem Zusammenhang ergriffen?

JG: Das erste Team, das vor Ort eintrifft, richtet normalerweise eine erste Koordinierungsstelle am Flughafen ein. Aufgrund der örtlichen Korona-Vorschriften war dies bei diesem Einsatz nicht möglich. Alle Teammitglieder mussten sich zunächst auf dem Flughafen einem Covid-19-Test unterziehen und blieben einige Stunden lang isoliert, bis das negative Testergebnis vorlag. Erst dann wurden wir für den Einsatz vor Ort freigegeben. Und auf der Rückreise am Montag mussten alle Teammitglieder mindestens einen Covid-19-Test machen. Alle negativ. Inzwischen sind alle wieder wie gewohnt an der Arbeit.

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MS: Autsch. Da werden schmerzhafte Erinnerungen wach. Als wir ankamen, gab es eine voll ausgestattete Kontrolllinie, wo das Personal diese langen Wattestäbchen so weit in unsere Nasen einführte, dass wir bluteten. Das Ganze war sehr schmerzhaft und sehr streng. Erst nach einem negativen Testergebnis konnten wir mit der Arbeit beginnen. Später im Lager gab es Sanitäter oder Ärzte, die einen ständig kontrollierten. Sie verwendeten nur weniger schmerzhafte Rachenabstriche und Temperaturmessungen, Gott sei Dank...

Wann wurde der Einsatz als abgeschlossen betrachtet und das @fire-Team konnte nach Hause zurückkehren?

JG: Ein Einsatz ist erst dann zu Ende, wenn das gesamte Team wieder wohlbehalten zu Hause ist. Und dann gibt es natürlich noch die Nacharbeit. Einige Mitglieder des Notfallteams stehen noch immer in täglichem Kontakt mit den Einsatzkräften vor Ort. Außerdem planen wir - über den Online-Austausch hinaus - weitere Schulungen mit der Feuerwehr in Beirut nach Abschluss der ersten Phase.

MS: Unser Team arbeitete am Sonntag bis in den späten Nachmittag und wurde dann am Abend zum Flughafen gebracht. Unser Flugzeug startete dann am Montagmorgen um 4:00 Uhr.


Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den Hilfsmaßnahmen in Beirut ziehen?

JG: Es war ein sehr erfolgreicher Einsatz für @fire, denn wir haben einmal mehr bewiesen, dass wir eine kleine, aber wertvolle Hilfsorganisation sind, auf die man im Notfall zählen kann; dass wir schnell und flexibel einsetzbar sind und alle uns gestellten Aufgaben erfüllen können.

Auch wenn wir aufgrund der besonderen Situation in Beirut keine Überlebenden finden und retten konnten, so konnten wir zumindest schnell feststellen, dass unter den Trümmern niemand mehr am Leben ist. Eine enorm wichtige Erkenntnis für alle weiteren Bergungs- und Wiederaufbauarbeiten und natürlich auch für besorgte Freunde und Angehörige. Auch bei der Begutachtung der Gebäudeschäden konnten wir wertvolle Hilfe leisten.

Der Einsatz in Beirut hat auch bewiesen, dass @fire in einer realen Katastrophensituation mit einem neuen Konzept, den so genannten "Light Urban Search and Rescue (USAR) Teams" - Teams von insgesamt nur etwa 20 Personen - reibungslos mit viel größeren Teams zusammenarbeiten kann. Und das nach internationalen, von der UNO anerkannten Standards. Die offizielle Zertifizierung dieser neuen leichten USAR-Teams durch die zuständige UN-Institution hätte bereits erfolgen sollen, hat sich aber aufgrund von Covid-19 verzögert.

 

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Welche persönlichen Erfahrungen nehmen Sie aus dieser Aufgabe mit? Gibt es einen Moment oder einen Gedanken, der Ihnen besonders lebhaft in Erinnerung geblieben ist?

MS: In Beirut hatte ich ein ganz besonderes Erlebnis: Ich war eingeladen, an der Beerdigung der libanesischen Feuerwehrleute teilzunehmen, die bei der Explosion ums Leben kamen. Es war sehr emotional, weil man sich der Gefühle bewusst war, die die Kollegen dort durchlebten und es dennoch schafften, sich als Profis um ihr Tagesgeschäft zu kümmern. Und ehrlich gesagt war auch der nächste Tag, als wir die Hilti-Ausrüstung an diese Kollegen in Beirut übergaben, ein besonderer Moment für mich.

 

@feuer

Die 2002 in Deutschland gegründete gemeinnützige Hilfsorganisation @fire leistet mit ihren weltweit mehr als 200 Mitgliedern schnelle Nothilfe bei der Bekämpfung von Waldbränden und der Rettung von Opfern nach Erdbeben oder anderen Katastrophen. Bei den Einsatzkräften handelt es sich in erster Linie um Mitarbeiter von Berufsfeuerwehren, freiwilligen Feuerwehren und Rettungsdiensten mit entsprechender Berufsausbildung und -erfahrung, die ebenfalls ehrenamtlich und unentgeltlich für die internationalen Hilfsaktionen von @fire tätig sind.

 

Johannes GustGründer und Geschäftsführer eines Prüf- und Beratungsunternehmens für Anlagen und technische Sicherheit. Seit 2003 ist er ehrenamtlich für @fire tätig. Derzeit ist er im Vorstand und als USAR-Projektleiter tätig. Johannes Gust ist 40 Jahre alt und...

Johannes Gust

Gründer und Geschäftsführer eines Prüf- und Beratungsunternehmens für Anlagen und technische Sicherheit. Seit 2003 ist er ehrenamtlich für @fire tätig. Derzeit ist er im Vorstand und als USAR-Projektleiter tätig. Johannes Gust ist 40 Jahre alt und lebt und arbeitet in Osnabrück, Deutschland. 

Markus StengeleArbeitet seit 2010 als Chemielaborant im Bereich der Diamantwerkzeugentwicklung im Hilti-Werk in Schaan. Er ist Mitglied der örtlichen 40-köpfigen Betriebsfeuerwehr und der Freiwilligen Feuerwehr in Rankwe...

Markus Stengele

Arbeitet seit 2010 als Chemielaborant im Bereich der Diamantwerkzeugentwicklung im Hilti-Werk in Schaan. Er ist Mitglied der örtlichen 40-köpfigen Betriebsfeuerwehr und der Freiwilligen Feuerwehr in Rankweil. Seit 2015 ist er ehrenamtlich für @fire tätig. Markus Stengele ist 43 Jahre alt und lebt in Rankweil, Österreich.

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